Am Morgen des 9. November 1939 wunderten wir Häftlinge uns sehr, als nach dem Morgenappell durch den Lautsprecher nicht das übliche Kommando: ,, Arbeitskommandos antreten!" erklang, sondern der Be­fehl: ,, Blockweise in die Baracken abrücken. Kein Häftling darf die Baracken verlassen!"

Wir waren völlig ahnungslos, bis die Häftlinge, die den Stubendienst in den Verwaltungsbaracken vor dem Lager versahen, wieder in das Lager zurückkamen und die sensationelle Nachricht mitbrachten: Gestern abend ist im Bürgerbräukeller ein Attentat auf Hitler versucht worden.. Hitler unverletzt, Attentäter unbekannt.

Wie ein Lauffeuer verbreitete sich die Nachricht trotz der Baracken­sperre durch das ganze Lager, und es dauerte gar nicht lange, bis die toll­sten Latrinengerüchte umliefen, die in der Hauptsache dadurch genährt wurden, daß man von Rödls Anwesenheit in München wußte. Rödl war Träger des sogenannten Blutordens.

Gegen 9 Uhr kamen zwei Scharführer in das straßenleere Lager. Einer davon war der berüchtigte Scharführer Sommer, der Henker aus dem Arrest, der andere ein Oberscharführer, der wegen seiner sich un­verhüllt zeigenden Homosexualität bei den Häftlingen unter dem Spitz­namen ,, Anna" bekannt war. Sie gingen in eine der Judenbaracken und ließen fünf Juden, die sie willkürlich auswählten, heraustreten. Aus einer zweiten Judenbaracke ließen sie acht Juden heraustreten. Und aus einer dritten wählten sie weitere sieben Juden aus. In dieser Baracke war der Wiener Zahnarzt Kende im Stubendienst beschäftigt. Er hatte, da der Blockälteste gerade nicht an der Tür war, um die vorgeschriebene Meldung an die Scharführer zu machen, die Belegung der Baracke ge­meldet und ahnungslos gefragt:, Was wünschen Herr Scharführer?" Als dann die zwanzig Juden vor der Baracke in Reih und Glied standen und die Kolonne sich anschickte, unter ,, Annas" Kommando abzumarschieren, hatte sich Sommer im letzten Augenblick zu Kende umgedreht und gesagt: ,, Du da, komm' man auch gleich mit."

Unter den 21 Juden war auch ein 18jähriger Bursche, dessen Vater gleichfalls im Lager war. Dieser junge Jude war eben aus dem Revier entlassen worden, wo der Lagerchirurg SS.- Obersturmführer Zahel eine schwierige Rippenresektion erfolgreich durchgeführt hatte, und war ein bescheidener, begabter, charakterlich wundervoller Mensch.

Der Meldedienst, den wir Häftlinge unter uns eingerichtet hatten, übermittelte den Vorfall schnell, dem wir aber keine besondere Be­deutung beilegten. Wir nahmen an, daß irgendeine Arbeit außerhalb des Lagers zu verrichten war.

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