An einem sehr kalten Wintertag dauerte der Appell wieder einmal besonders lange. Immer wieder zählten die Scharführer ihre Blocks nach, immer wieder wurden die einzelnen Meldungen addiert. Die Zahl der abgestellten und im Revier liegenden Häftlinge wurde kontrolliert. Der Fehler war nicht zu entdecken. Ein Häftling wurde vermißt. Die Block­ältesten führten einen Namensaufruf durch. Ergebnislos.

Auch der Appellführer im Häftlingsrevier kontrollierte noch einmal seine Angaben nach, ohne zunächst auf den Fehler zu stoßen.

An diesem Abend waren wieder einmal etwa 40-50 teils tote, teils sterbende Häftlinge nach dem Einrücken in das Revier gebracht worden. Sie wurden als Reviereinlieferungen gemeldet, um den Appell schneller zum Abschluß zu bringen, und am nächsten Morgen erst als im Laufe der Nacht verstorben oder eingeliefert im Appellbericht aufgeführt.

In der Mitte der Revierbaracke II lag ein mit Steinfußboden ver­sehener Abortraum. In diesen Raum wurden die toten und sterbenden Häftlinge gebracht, weil die Reinigung des Raumes wegen des Steinfuß­bodens einfacher war.

Der Appellmacher hatte sich bei der Nachzählung vertan. Das war weiter nicht verwunderlich, denn es handelte sich um einen Raum, der etwa drei mal vier Meter groß war, und wenn darin etwa 40-50 teils tote, teils sterbende Häftlinge untergebracht werden mußten, ließ es sich nicht vermeiden, die Häftlinge übereinander zu schichten, und es war bestimmt kein Vergnügen, in diesem furchtbaren Menschenhaufen herumzuwühlen, um festzustellen, um wieviel Häftlinge es sich handelte und welche Nummern sie an ihren Kleidungsstücken trugen.

Jetzt stand unser Appellmacher in Gefahr. Denn Rödl war beim Appell zugegen, und bei seiner sprunghaft sadistischen Veranlagung war es sehr leicht möglich, daß er unseren Kameraden nun durchprügeln lassen, seines Postens entheben und ihn in die Strafkompanie schicken würde. Irgendeine Vertuschung war nicht mehr möglich. Zunächst waren wir ratlos, dann beschlossen wir, alles auf eine Karte zu setzen.

Das Revier war telephonisch mit der Torwache in Verbindung. Ich telephonierte mit SS.- Hauptscharführer Strippel, dem wir bei der Ver­tuschung der Appelldifferenz mit den drei nach Jena eingelieferten Zigeunern geholfen hatten, schenkte ihm klaren Wein ein und bat ihn, er möchte zusehen, ob er die Sache einrenken könnte. Er versprach es.

Und nun durchlebten wir einige Minuten großer Spannung, denn noch wußten wir nicht, ob alles glatt ablief. Aus dem Lautsprecher mußten wir es in den nächsten Sekunden erfahren. Da, im Lautsprecher knarrt es. Wird unser Appellmacher ans Tor gerufen? Die Sekunden

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