REPUBLIK BIS AUF WEITERES

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nachtszeit im ungeheizten Straßenbahnwagen zur entlegenen ,, Spinnerin am Kreuz" hinauffuhr, um den Kindern meiner Nichte ein Geschenk zu überbringen. Es war einer der kältesten Tage nicht nur des Jahres, sondern des Jahrzehnts; zwanzig Grad unter Null, Reaumur natürlich, hatte das Thermometer morgens hinter dem vereisten Fenster angezeigt. Selbst in dem überfüllten Straßenbahnwagen war die Temperatur unter Null, wie mir das gefrorene Nasentröpfchen meines Gegenübers deut­lich anzeigte. Es war ein bläulich violetter Greis in einem zer­lumpten dünnen Überrock, der mich, vor Kälte weinend, wiene­risch zwinkernd anstarrte, wie auch ich, notgedrungen, ihn. Wir verstanden uns augenscheinlich, denn nach einer Weile öffnete er den blau gerandeten, weiß bestoppelten Mund und sagte monologisch im schönsten Wiener Dialekt: Wenn man nur schon im Krematorium wär'!" Ich habe für wahren Humor immer etwas übrig gehabt und honorierte diese glückliche Be­merkung sofort mit einem Schilling, was er sich mit lang anhaltendem Erstaunen gefallen ließ. Vielleicht war er ein ehe­maliger ,, Beamter ", ein sogenannter ,, Pensionist", was am Ende seiner Tage zu werden in der schönen Vorkriegszeit immer schon der Traum des Wiener Nachwuchses gewesen war. Ich werde nie das Gespräch zweier Knaben vergessen, das ich ein­mal notgedrungen auf der Eisenbahn mit anhörte. Sie sprachen über die Berufswahl und am Ende eines längeren Für und Wider, alle Gegenargumente überwindend, sagte der schon Dreizehnjährige zu dem erst Zwölfjährigen: Aber dafür bin ich nach vierzig Dienstjahren pensionsfähig!"

Das Wienerische im Bilde einer zentraleuropäischen Verelen­dung war, daß sich in der ehemaligen Kaiserstadt der Hunger immer noch mit einer überkommenen leichten Hand paarte. Die Bettelglocke an der Wohnungstür schrillte von früh bis abends, aber die stumme Bitte blieb selten unerfüllt. Auch Trinkgelder wurden immer noch gegeben und kleine Geschenke zu Weih­