es aus unserem Heim treffe. Wir saßen zunächst alle wie gelähmt, die Gesichter waren blaß geworden, wieder sah ich auf ihnen den Ausdruck steinernen Entsetzens, der mir in den Novembertagen des Jahres 1938 zum ersten Mal bei unseren Menschen aufgefallen war. Und dann über- stürzten sich die Fragen: Jeder wollte wissen, wieviel Menschen aus seinem Heim betroffen würden. Der Haupt- lehrer, Heilbronner und ich tauschten einen entsetzten Blick, als uns die Zahl von zirka fünfundachtzig Menschen aus unserer Heimanlage genannt wurde. Wir erfuhren dann noch, daß es unserem Vorstand gelungen war durchzu- setzen, daß jüngere Kinder nicht von ihren Eltern, Frauen nicht von ihren Männern getrennt werden sollten. Dagegen sei es nicht zu erreichen gewesen, daß Geschwister bei- sammen blieben.-Deportiert würden nur Menschen bis zu sechzig, höchstens fünfundsechzig Jahren. Das sei alles, was bis jetzt bekannt sei. Wir wurden nochmals zu unbedingte- stem Schweigen verpflichtet, die Gestapo hatte mit strenger Bestrafung im Nichtbefolgungsfalle gedroht. Wir durften nur Abel, als Mitglied der Heimleitung, in Kenntnis setzen. Wir legten unseren Heimweg schweigend zurück. Einzig der Hauptlehrer äußerte einmal unterwegs:„Wer weiß, ob nicht auch wir unter den zur Deportation Eingeteilten sind.‘ Er erhielt keine Antwort, dieser Gedanke hatte auch Heil- bronner und mich flüchtig gestreift, doch war es uns beiden im Augenblick nicht wichtig, ob wir selbst unter den Betroffenen sein würden. Noch eine Mitteilung hatte uns schwer bedrückt: Allen jüdischen Menschen bis zu sechzig Jahren war von nun ab die Auswanderung verboten. Auch für mich war damit wieder eine Hoffnung zunichte gewor- den, die sich lockend vor mir aufgetan hatte: vor drei Tagen bekam ich die telegraphische Ankündigung eines Visums für die Ausreise nach Kuba . Aber vor der ersten niederschmetternden Nachricht verblaßte alles andere. Da durchzuckte es mich wie ein Schlag: Eine Heiminsassin, die ich sehr schätzte wegen ihres klugen, immer heiteren
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