Nächstliegende und Wichtigste für mich war, und darum meine jetzt einfach unwichtigen Fragen überhörte, so müssen wir alle lernen, in allen Lagen des Lebens die Stunde zu nutzen und das Erforderliche und Mög­liche zu tun!

,, Geh schlafen", sagt er bald ,,, du hast morgen einen harten Tag, und es ist besser, wenn du ausgeruht bist. Wir werden noch genug Zeit haben, über das zu sprechen, was uns auf dem Herzen liegt."

Und als ich dann unter meine beiden dünnen Wolldecken gekrochen bin und den Tag überdenke, so wie ich es schon seit vielen Jahren zu tun pflege, da erst wird es mir klar, daß Hans Schulenburg mir zwar viele wichtige Fingerzeige gegeben hat, daß er im Grunde aber ungemein vor­sichtig in seinen Äußerungen über das Lager gewesen ist und daß er mir manche meiner vielen Fragen nicht beantwortet hatte. Und erst später, als mir selbst die Atmosphäre aufgegangen war, die hier im Lager infolge des Zwanges und der Grausamkeit herrschte, verstand ich ihn ganz.

Um 5 Uhr ist jetzt im Winter für uns Häftlinge die Nacht vorbei, im Sommer beginnt der Tag um 4 Uhr. Eine Stunde nach dem Wecken muß auf dem Appellplatz angetreten werden. Im Winter geht die Arbeitszeit bis 16 beziehungsweise 17 Uhr, im Sommer bis 18 Uhr.

Es ist noch finster, als wir zum Appellplatz abrücken. Auf den Lager­straßen sammeln sich die einzelnen Blocks zu einem langen Zuge. Die Kolonnen ziehen mit sonderbar schleppendem Gang dahin, wider­standslos, schicksalsergeben, als laste alle Verdammnis der Erde auf ihnen, ungemein stupide und monoton. Ich muß unwillkürlich an den Film ,, Schuld und Sühne" denken, den ich vor Jahr und Tag sah und in dem mir der Zug der Verbannten durch die unendliche Einöde Sibi­ riens ans Herz griff. Jetzt marschiere ich selbst in einem solchen Zuge, und das Mitleiden und Mitfühlen von damals ist nun schwer lastendes, ureigenstes, allerpersönliches Erleben.

Auf dem Appellplatz wird blockweise angetreten. Alles geht fast reibungslos. Der Blockälteste zählt die Belegschaft ab, und als er sich da­von überzeugt hat, daß kein Häftling fehlt, wartet er auf den Schar­führer. Der weite Platz ist von Häftlingen überfüllt. Unser Block steht ganz unten auf dem Appellplatz. Es ist empfindlich kalt. Der Wind fegt durch unsere Kleider. Noch ist es dunkel, aber die erste graue Morgen­dämmerung zieht langsam herauf. Über dem Block, der in einiger Ent­

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